Mit allem rechnen

Dr. Peter Gerth, Leiter des Kompetenzzentrums Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe, mit seinem Team Christoph Jacob und Anja Müller bei der mikroskopischen Untersuchung von gefriergetrockneten BNC-Vliesen. Diese eignen sich zur Herstellung von Spritzgussteilen und Werkstoffen für den 3D-Druck. Foto: Matthias Sasse
Projektmitarbeiter Christoph Jacob bestimmt am Rotationsviskosimeter das Fließverhalten der flüssigen bakteriellen Nanocellulose. Es handelt sich dabei um eine wichtige Eigenschaft für den Beschichtungsprozess. Foto: Matthias Sasse
Projektmitarbeiter Christoph Jacob bestimmt am Rotationsviskosimeter das Fließverhalten der flüssigen bakteriellen Nanocellulose. Es handelt sich dabei um eine wichtige Eigenschaft für den Beschichtungsprozess. Foto: Matthias Sasse
Bei herkömmlichen Naturfasern wie Hanf und Flachs ist die Fasereinkürzung vor der Herstellung von Granulaten für den Spritzguss ein kritischer Schritt. Bakterielle Nanocellulose hat von Natur aus die idealen Dimensionen für Compositwerkstoffe. Foto: Matthias Sasse

Wirtschaftswachstum trotz globaler Klimaveränderungen? Da sind innovative Ideen gefragt – auch in der Materialforschung. Ressourcenschonend und gut recycelbar, kurz nachhaltig müssen die modernen Werkstoffe sein. „Die Potenziale biobasierter Rohstoffe sind da noch lange nicht ausgeschöpft“, weiß Dr. Peter Gerth, Leiter des Kompetenzzentrums Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe.

Text: Kathrain Graubaum

Hanf, Flachs und Co waren Jahrhunderte lang die wichtigsten Rohstoffe für die europäische Textilindustrie – bis sie durch Kunstfasern ersetzt wurden. Die brauchen für ihre Herstellung jedoch fossile Energieträger. Jetzt ist nicht nur deren Endlichkeit abzusehen, auch die negativen Auswirkungen auf das globale Klima und die Umwelt sind deutlich.

Da feiern die nachwachsenden natürlichen Rohstoffe ihr Comeback – auch im Labor des KAT-Kompetenzzentrums Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Hier werden die „Materialien vom Feld“ für ganz neue Anwendungsgebiete erforscht. „Die genaueste Charakterisierung der Naturfasern ist Voraussetzung für die Herstellung maßgeschneiderter Werkstoffe“, sagt der wissenschaftliche Leiter des Kompetenzzentrums Dr. Peter Gerth. „Maßgeschneidert“ heißt, dass sie in Verbundwerkstoffen zur Verstärkung eingesetzt werden, etwa als preiswerte Füllstoffe, zur Erzielung von naturnaher Anmutung und Haptik in Produkten und nicht zuletzt ihrer guten physiologischen und mechanischen Eigenschaften wegen. Gerth nennt als Beispiel die Autoinnenverkleidungen. „Diese Kunststoffe sind bislang glasfaserverstärkt und erlangen durch den Einsatz von Naturfasern ein besseres Crash-Verhalten sowie eine erhebliche Gewichtsreduktion.“

Neue Geschäftsfelder entdecken

KAT – die drei Buchstaben stehen für „Kompetenznetzwerk für angewandte und transferorientierte Forschung“, die an der Hochschule Magdeburg-Stendal betrieben wird – als Voraussetzung für die Konzeption und Etablierung innovativer Produktions- und Wertschöpfungsketten bei Partnerunternehmen. Peter Gerth betont die Praxisnähe der Forschung, den Technologie- und Wissenstransfer zwischen Hochschule und Wirtschaft. „Jetzt und in Zukunft müssen sich alle den Nachhaltigkeitskriterien stellen. Wir können den Unternehmen dabei helfen. Mehr noch: Wir können ihnen neue Geschäftsfelder aufzeigen und deren Erschließung begleiten“, sagt Gerth und dass nachwachsende Rohstoffe den neuen Herausforderungen im wahrsten Sinne „gewachsen“ sind. In den Einsatzbereichen Bioenergie und Biowerkstoffe seien deren Potenziale bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Gegenwärtig, so der Wissenschaftler, stehen am Kompetenzzentrum die naturfaserverstärkten Biopolymere im Fokus der Forschung.

Winzige Bakterien im Großeinsatz

Peter Gerth erklärt gern anschaulich: Er nimmt eine Schere und zerschneidet eine Strähne von Naturfasern in nur wenige Millimeter lange Stückchen. Jede Faser hat etwa den Durchschnitt eines normalen Haares. Nach entsprechender Aufbereitung werden sie in das geschmolzene Biopolymer eingebracht und anschließend zu einem Granulat verarbeitet. „Aus solchen Naturfaserverbindungen stellen unsere Kooperationspartner aus der Wirtschaft Spritzgussteile, Biowerkstoffe zum Tiefziehen oder biobasierte Stützmaterialien für den 3D-Druck her“, sagt Peter Gerth und dass dies ja nichts Außergewöhnliches sei. Wenn man nämlich ganz besondere Werkstoffe entwickeln will, die fester als Stahl, dabei ultraleicht, transparent und somit unsichtbar sind, die eine Barriere für Wasser und Sauerstoff darstellen, dann dürfe der Durchmesser einer Faser nur ein Tausendstel eines menschlichen Haares betragen. Solch eine Faser wächst nicht in der Natur. Was tun? Mit der Kompetenz von Forschungspartnern und Erfahrung aus eigener Arbeit verwirklicht das Magdeburger Team die Idee, Bakterien für die Herstellung von Zellulose zur Hilfe zu nehmen. Die Vorteile dieser bakteriellen Nanocellulose, kurz BNC, liegen auf der Hand – auf der von Peter Gerth in Form eines gefriergetrockneten BNC-Vlieses. Das besteht aus ultradünnen Fasern in gewünschter Länge und Quantität, die zudem nicht verklumpen.

Frischhaltefolie biologisch und recycelbar

„BioSBarrier“ – Biobasierte Hochleistungsbarrierewerkstoffe heißt das entsprechende Projekt, an dem das Team um Peter Gerth und Partner aus der Wirtschaft arbeiten. „Das BNC-basierte Material soll als Hochleistungsbeschichtung im Lebensmittelbereich eingesetzt werden; etwa auf Verpackungsmaterialien als Barriere, die keine Feuchtigkeit heraus- und keinen Sauerstoff hineinlässt, um eine längere Haltbarkeit zu gewährleisten“, sagt Peter Gerth und erklärt die Funktionsweise. Vereinfacht ausgedrückt: Beim Durchdringen der Folie müssen die Wasser- bzw. Sauerstoffmoleküle die vielen feinen Faseranteile umkurven, werden so zu längeren Umwegen gezwungen. Gleichsam verlängert sich die Zeit, bis sie den Lebensmitteln Schaden zufügen.

Die Machbarkeit der Technologie hat das interdisziplinäre Team am KAT-Kompetenzzentrum Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe inzwischen nachgewiesen. Die Anwendung der bakteriellen Nanocellulose unter industriellen Bedingungen sei der nächste Schritt, so Peter Gerth. Apropos Nachhaltigkeit. Da die Folie zu 100 Prozent biologisch ist, sei sie auch im Rahmen des natürlichen Stoffkreislaufes recycelbar, betont der Wissenschaftler.

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Projektgruppenleiter Naturstoffinnovation

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