Die Kraft sozialer Netzwerke
Jeder Mensch möchte im Alter bestmöglich versorgt werden. Durch Kostendruck und Personalmangel ist die Situation jedoch so angespannt, dass sogar vom Pflegenotstand gesprochen wird. Noch komplexer kann die Herausforderung werden, wenn es um sogenannte Minderheiten geht. So ist die Altenpflege selten auf Bedürfnisse und die Lebenslagen von LSBTI* Menschen eingestellt. Prof. Ralf Lottmann und sein Team untersuchen in diesem Zusammenhang, wie soziale Netzwerke in die Pflege integriert und so die Lebensund Pflegequalität verbessert werden können.
von Manuela Bock
Da gibt es diesen Mann in einem deutschen Pflegeheim: 60 Jahre alt, schwul, HIV-positiv, chronisch krank. Mit dem Pflegegrad 3 – der eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit bescheinigt. Er hatte nach einem Ort gesucht, wo er gut versorgt wird. Eine Umgebung, in der er sich nicht immerzu erklären muss, es keine Vorurteile gibt. Ein Ort, an dem er sich mit anderen Menschen austauscht, es altersgerechte Angebote gibt und er selbstbestimmt leben kann. Gefunden hat er ihn nicht. Heute lebt er in einem Pflegeheim, in dem er sich nicht so recht wohlfühlt.
Angst vor Bloßstellung und Scham
Stefanie Heiber hat diesem Mann lange zugehört. Er ist einer von nur wenigen LSBTI*Menschen, die bereit sind, über ihr Leben und die Pflege im Alter zu sprechen. Es gibt viele Gründe, warum sie sich nicht öffnen möchten: schlechte Erfahrungen, die Angst vor Bloßstellung, Scham. Dabei ist es wichtig, was sie zu erzählen haben, meint die Wissenschaftlerin. Mit ihrer Kollegin Rona Bird analysiert sie Daten für das von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderte Projekt „Bewältigung von Pflegeereignissen im wahlfamiliären Kontext am Beispiel von LSBTI* Pflegebedürftigen“, kurz „PflewaK“. Es vertieft die Forschungen von Dr. Ralf Lottmann, Professor für Gesundheitspolitik der Hochschule Magdeburg- Stendal, zur Vielfalt und Heterogenität der älteren Gesellschaft sowie den Teilhabechancen älterer Menschen.
Mit PflewaK legt das Team erstmals das Augenmerk darauf, welche Relevanz soziale Netzwerke in der Pflege haben. Es konzentriert sich dabei auf schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI*), die im Vergleich zu heterosexuellen Pflegebedürftigen häufiger kinderlos und alleinstehend sind. „Bei ihnen gestalten sich die sozialen Netzwerke im Alter zum Teil anders. Freund:innen und Bekannte spielen beispielsweise eine viel größere Rolle“, erklärt Rona Bird. Das Forschungsteam untersucht, welchen Einfluss das soziale Umfeld neben den professionellen Pflegekräften hat. Gibt es ein solches Netzwerk, ist es meist so vielfältig wie die Hilfe, die es leistet: Die Partnerin, der Ex-Partner, Nachbar: innen, ehemalige Kolleg:innen, die Bäckersfrau von nebenan – manche holen Medizin, andere kommen zum Reden vorbei oder helfen beim Toilettengang. Wie gestaltet sich die sogenannte wahlfamiliale Unterstützung im Alter? Das ist nicht nur für LSBTI* eine wichtige Frage, weil sich die Kinderlosigkeit in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland verdoppelt hat.
Das Thema brennt
Wie die Bildung dieser sozialen Netzwerke gefördert werden kann, wann Menschen von guter Pfl ege sprechen und sich gut aufgehoben fühlen, solche Fragen stellen die Wissenschaft lerinnen den Menschen, die reden möchten. Um sie zu erreichen, müssen sie an viele Türen klopfen. Sie interviewen zudem nicht nur LSBTI* Personen, sondern auch heterosexuelle Senior:innen mit und ohne Kinder. Ist der Weg frei, reisen sie quer durch Deutschland zu den Interviews. Sie merken: Das Thema brennt. „Es gibt große Versorgungslücken bei der Pfl ege von LSBTI* Menschen“, weiß Stefanie Heiber. Im Alter off en zu leben, das sei für sie nicht immer möglich. Aus Angst vor Vorbehalten und Diskriminierung durch die Pfl egenden oder Mitmenschen würde nicht selten sogar die eigene Biografi e verleugnet. Mit Blick auf den allgemeinen Fachkräft emangel in der Pfl ege macht Rona Bird auf einen heiklen Zusammenhang aufmerksam: „Was ohnehin ein Problem ist, spitzt sich für LSBTI*Menschen zu. Sie sind von der Mangelsituation stark betroff en, fürchten aus ihren Erfahrungen heraus, ausgegrenzt zu werden und können sich in der Pfl ege weniger auf Angehörige stützen“. Wenig Unterstützung gibt es außerhalb der Pfl ege. An dieser Stelle setzt Pfl ewaK an. Das Projekt beschäft igt sich unter anderem mit den Fragen: Wer kann überhaupt Pflege übernehmen? Wer fragt wie nach Hilfe im Alter? Als eine wichtige Erkenntnis kristallisiert sich bei den Forschungen heraus, dass sich LSBTI*Menschen häufi g sozial abgeschnitten fühlen, aber auch Strategien der Kompensation haben, die nicht immer von der Altenhilfe erkannt werden. Lebensweltkenntnisse spielen für eine gute Pfl egequalität im Alter bei ihnen eine wichtige Rolle.
Es sind solche Puzzlestücke, aus denen sich die Ergebnisse und Ableitungen bei Pfl ewaK zusammensetzen werden. Mit denen möchte das Team am Ende die Öff entlichkeit sensibilisieren und „Spuren für eine bessere Altenhilfe für alle hinterlassen“, so Prof. Ralf Lottmann. „Letztlich geht es darum, dass das Leben mit seinen Verläufen vielfältiger wird und wir alle länger und bunter leben. Darauf müssen sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einstellen.“ Warum nicht verstärkt Kooperationen von professionellen Pfl egedienstleistern und nachbarschaft lichen Netzwerken und Wohnungsbaugesellschaften einführen? Warum nicht schon in der Ausbildung der Pfl egekräft e den Nutzen einer LSBTI*-kultursensiblen Pfl ege einbringen und für „nicht-normative“ Lebenswelten sensibilisieren? Was können Mehrheiten von Minderheiten in Sachen guter Pfl ege lernen und umgekehrt? Auf viele Fragen werden bald Antworten aus der Hochschule Magdeburg-Stendal kommen.
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