Wissenschaft und Zivilgesellschaft suchen nach demokratischen Wegen durch die Krisen
Während des Pressegesprächs (v. l.): Mamad Mohamad (LAMSA e.V.), Marina Chernivsky (OFEK e.V.), Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya und Prof. Dr. Matthias Quent (beide IdK der Hochschule). Foto (Ausschnitt): Nikolas Dietze
„Die relative Schwäche des demokratischen Spektrums in Politik und Zivilgesellschaft lässt Raum für die Stärke der äußersten Rechten.“
Anlässlich des Pressegesprächs am 12. Juli unter dem Titel „Demokratie in Sachsen-Anhalt unter Druck: Lageeinschätzungen und Handlungsempfehlungen“ wird die folgende Presseerklärung der beteiligten Institutionen veröffentlicht. Titelzitat: Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya, Vorstandsvorsitzende des Instituts für demokratische Kultur der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Wissenschaft und Zivilgesellschaft suchen an der Hochschule Magdeburg-Stendal nach demokratischen Wegen durch die Krisen
Die am 28.6.2023 veröffentlichte repräsentative Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) der Universität Leipzig zu politischen Einstellungen hat einmal mehr gezeigt: Die demokratische Kultur steckt in Ostdeutschland in einer handfesten Krise. Sachsen-Anhalt belegt im ostdeutschen Ländervergleich einen besorgniserregenden ersten Platz bei der Verbreitung rechtsextremer Einstellungen. Aber die bisherigen Reaktionen auf das nachgewiesene Ausmaß mangelnder politischer Beteiligung, extrem rechter Einstellungen und ökonomischer Unsicherheit sind unzureichend. Nötig sind grundlegende ursachenbezogene Strategien für mehr materielle Teilhabe und politische Mitbestimmung der heterogenen Bevölkerung. Zugleich müssen die Maßnahmen insbesondere gegen Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus intensiviert und verstetigt werden. Das Institut für demokratische Kultur der Hochschule Magdeburg-Stendal, der Landesfrauenrat Sachsen-Anhalt e.V., der Deutsche Gewerkschaftsbund, Miteinander e.V., LAMSA e.V. und OFEK e.V. rufen dazu auf, diesen Prozess gemeinsam zu gestalten.
Teilhabe und Mitbestimmung statt Autoritarismus
In Sachsen-Anhalt nimmt eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit der Demokratie wahr: Während zwei Drittel die Verfassung gutheißen, schätzen genauso viele ihre persönliche politische Selbstwirksamkeit als gering ein und ist nur ein Drittel mit der Demokratie im Alltag zufrieden. Hintergrund ist die langfristig geringe Bindungskraft demokratischer Parteien, die seit den 1990er Jahren keine größeren politischen Milieus aufbauen konnten. Auch wirken sozial privilegierte Gruppen stärker als benachteiligte Gruppen an Wahlen und anderen Formen politischer Willensbildung mit. Zugleich sind verfestigte rechtsextreme Einstellungen in Sachsen-Anhalt besonders stark ausgeprägt. Wahlerfolge der in weiten Teilen völkisch-nationalistischen AfD sind insoweit nicht als diffuser Protest zu betrachten. Vielmehr sind sie Symptom tiefer liegender Dynamiken, die Autoritarismus befördern. Diese Gemengelage fordert die demokratischen Kräfte in Sachsen-Anhalt doppelt heraus: „Erstens müssen gangbare Wege durch die Krisen hindurch in eine gerechtere Gesellschaft unter stärkerer Beteiligung der Bevölkerung gestaltet werden”, so Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya. „Zweitens muss die Abgrenzung zu Inhalten und Akteuren der äußersten Rechten nicht nur proklamiert, sondern im Alltag vor Ort praktiziert werden“, sagt Prof. Dr. Matthias Quent. „Dies bedeutet in der Praxis der Kommunalpolitik nach Wegen zu suchen, dem politischen Agenda Setting der AfD nicht dadurch Futter zu geben, dass ihren Anträgen und Vorlagen zugestimmt wird", ergänzt David Begrich, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V.
Heterogenität und Inklusion statt Rassismus und Antisemitismus
Große Sorge bereitet die Virulenz von Rassismus und Antisemitismus in Sachsen-Anhalt. So sind die offene Zustimmung von einem Drittel der Bevölkerung zu rassistischen Aussagen und die pro Einwohner*in besonders hohe Anzahl rechtsmotivierter Gewalttaten die Spitze des Eisbergs, mit dem Migrant*innen, Jüdinnen*Juden und People of Colour in Sachsen-Anhalt konfrontiert sind. Gewalt und Diskriminierung in Schulen, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen oder bei der Wohnungssuche kommen hinzu. „Auf Grund dieses Klimas wundern wir uns nicht, dass wir keine etablierte migrantische Zivilgesellschaft in Sachsen-Anhalt haben. Wenn 50 % der Menschen mit Migrationsgeschichte in Sachsen-Anhalt nicht länger als vier Jahre hier leben und nur 7 % länger als 20 Jahre, ist es nur folgerichtig, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die diskriminierungsfrei ist, Teilhabe ermöglicht und politische Partizipation fördert", erklärt Mamad Mohamad, Geschäftsführer von LAMSA e.V. Dazu zählen Menschen der hiesigen jüdischen Communities, in deren Alltag Auswirkungen antisemitischer Ressentiments eingreifen.
Tradierten Antisemitismus teilt in Sachsen-Anhalt jede zehnte Person offen und moderne Verschwörungsnarrative finden bei knapp der Hälfte der Bevölkerung Zustimmung. „Tradierte antisemitische Narrative sind die Vorstufen der verbalen und tätlichen Gewalt; der rechtsextreme Terroranschlag in Halle zeigt das in tragischer Weise sehr deutlich. Bei Antisemitismus müssen wir erstmal die Abwehr überwinden, das Problem gesamtgesellschaftlich einzuordnen und die Aufgabe seiner Bekämpfung in allen sozialen Institutionen zu verorten.“, erläutert Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK e.V. „Antisemitismus und Rassismus sind strukturell verankert und können daher nur strukturell abgebaut werden. Sie müssen Gegenstand der Lehre und Ausbildung sein. Forschung, Anlaufstellen, Beschwerde- und Interventionsmanagement müssen ausgebaut werden. Dabei sind die Betroffenenperspektiven ausschlaggebend für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs.“
Soziale Infrastruktur, Geschlechtergerechtigkeit und Fürsorge statt Unsicherheit und Prekarität
Die ökonomische Unsicherheit ist in der Bevölkerung weit verbreitet: Weniger als die Hälfte der Menschen in Sachsen-Anhalt bewertet ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut; ein Drittel empfindet sie als ambivalent und weit mehr als jede zehnte Person als schlecht. Hintergrund sind langfristig geringe Löhne, aktuelle Reallohnverluste und verfestigte Erwerbslosigkeit. Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung sichern Gute Arbeit und demokratische Beteiligung, stehen aber bundesweit unter Druck. „Menschen wollen Einfluss nehmen können auf ihr Lebensumfeld und ihre berufliche Situation. Echte Teilhabe stärkt die Akzeptanz von demokratischen Entscheidungen. Im Arbeitsleben stehen Betriebsräte für Beteiligung und Transparenz. Die Politik sollte die betriebliche Mitbestimmung und Wege zu einer höheren Tarifbindung aktiv unterstützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass demokratiefördernde Projekte in den Betrieben weiter gefördert werden“, erläutert Susanne Wiedemeyer, Landesleiterin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Sachsen-Anhalt. Zudem ist die soziale Infrastruktur in Sachsen-Anhalt ausgedünnt: In der frühen Bildung, an Schulen und in der Pflege fehlt es an Personal, die Betreuungs-, Bildungs- und Versorgungsqualität leidet. Betroffen sind von den Folgen insbesondere Frauen, wie Michelle Angeli, Vorsitzende des Landesfrauenrats betont: „Zusätzlich weist die vorangegangene Autoritarismus-Studie 2022 auf eine weitere besorgniserregende Entwicklung hin: Der Anstieg des Antifeminismus und die darin zum Ausdruck kommenden aggressiven Impulse gegen Frauen schärfen durch die erhöhte Aggressionsbereitschaft auf spezifische Gruppen in der Gesellschaft das Bild einer zunehmenden Verschiebung der Demokratiebedrohung.“
Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik sind gefragt: Kurz- und langfristige Gestaltungsaufgaben
Auch mit Blick auf die im kommenden Jahr anstehenden Kommunal- und EU-Parlamentswahlen müssen alle diese Problembereiche aus der Zivilgesellschaft heraus unter wissenschaftlicher Begleitung und mit politischer Unterstützung angegangen werden. Kurzfristig sollten die mühsam aufgebauten zivilgesellschaftlichen Strukturen für Vielfalt und gegen Diskriminierung verstetigt und um die Bearbeitung von Antifeminismus ergänzt werden. Mit Blick auf den Kommunal- und EU-Wahlkampf sollten zivilgesellschaftliche Akteur*innen Allianzen bilden und politische Parteien sich inklusiver aufstellen. Kurz- und mittelfristig bedarf es eines im Alltag spürbaren Ausbaus der sozialen Infrastrukturen und politischen Mitbestimmung. Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik können und müssen verstärkt dazu beitragen, die Ursachen der Krisen unserer Zeit zu bearbeiten und solidarische und menschenwürdige Antworten auf diese zu finden.
Informationen zum IdK
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