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Von Brüchen und Brücken in Argentinien
Geschafft: Absolventin Ingrid bei der Diplomübergabe in Buenos Aires. Foto: privat
Aus treffpunkt campus Nr. 91, 04/2016
Der Start ins Studium fiel für Prof. Dr. Ingrid Fehlauer-Lenz reichlich turbulent aus – mit vielen Provisorien und Fragezeichen, aber auch viel Hoffnung und gemeisterten Herausforderungen. Für treffpunkt campus blickt die Professorin für Fachdolmetschen am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien zurück.
Text: Prof. Dr. Ingrid Fehlauer-Lenz
Ich habe mein Studium 1985 an der Universidad de Buenos Aires begonnen, 14 Monate nach dem Ende der blutigsten Militärdiktatur Argentiniens, die sieben Jahre lang an der Macht gewesen war. Das ganze Land befand sich im Umbruch: Alles sollte demokratisiert werden, Freiheit und Gleichheit sollten auch in die staatlichen Universitäten einziehen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft versetzte vor allem die Jugend in Euphorie. Und mittendrin auch mich, eine Abiturientin, die Übersetzerin und Dolmetscherin werden wollte.
Die Zulassungsprüfungen an den Universitäten waren für elitär befunden und abgeschafft worden. Sie wurden durch ein Einführungsjahr ersetzt, in dem anhand von Brückenkursen alle Studienwilligen die Chance auf ein Studium erhalten sollten. Zu den Kursen gehörten Fächer wie Epistemologisches Denken, Staatskunde, Grundlagen der Naturwissenschaften und Einführung in die Rechtswissenschaften. Die Umstellung auf dieses Einführungsjahr war eine große Herausforderung für das Bildungsministerium, denn innerhalb kürzester Zeit mussten Curricula und Lehrgebäude aus dem Boden gestampft werden. Ebenso wurden Professoren und Lehrmaterialien benötigt. Doch dem argentinischen Improvisationstalent sind keine Grenzen gesetzt: Lehrkräfte waren schnell unter den vielen arbeitslosen Intellektuellen gefunden und auf deren Eignung (oder nicht) konnte dann eben keine Rücksicht genommen werden.
Die Curricula waren flugs entworfen: eine ausgewogene Mischung unterschiedlichster Themen aus verstaubten Philosophie- und Naturwissenschaftsbüchern. Auch Lehrgebäude wurden in Windeseile hergerichtet: In geräumte Kasernen wurden Wände eingezogen, in leerstehenden Wohnungen wurden sie entfernt. In jedem Raum wurde eine Wand mit schwarzer matter Farbe angestrichen – fertig waren die Wandtafeln. Dicht aneinandergereihte Stuhlreihen und ein kleiner Tisch für den Dozenten vervollkommneten das Bild – die Lehrräume waren einsatzbereit. Der Druck der Lehrmaterialien dauerte etwas länger, denn sie sollten billig und für alle erschwinglich sein und Urheberrechte mussten umgangen werden. Aber so gegen Ende der Vorlesungszeit, also ein, zwei Wochen vor den Prüfungen, standen auch die Lehrbücher zur Verfügung.
Viele junge Leute, die bisher aus ideologischen, politischen oder finanziellen Gründen nicht hatten studieren dürfen oder können, ergriffen nun ihre Chance. Ebenso taten es diejenigen, die gerade ihr Abitur in der Tasche hatten. Am ersten Unterrichtstag stürmte eine unglaubliche Menge an Studierenden die Lehrgebäude. Alle suchten sie irgendwen oder irgendetwas, alle drängten sich durch die Flure und Räume, alle riefen Namen aus und stellten Fragen, auf die niemand eine Antwort hatte. Überall herrschte nur Chaos. Und mittendrin ich, eine Studentin, die Übersetzerin und Dolmetscherin werden wollte.
In diesem Jahr habe ich gelernt, mich durch die Massen zu wühlen, um einen Sitzplatz zu bekommen und auch zu versuchen, ziemlich weit vorne zu sitzen: Dort hört und sieht man besser und man hat auch eine Chance, gesehen zu werden, wenn man sich meldet. Auch, dass ich mich nicht auf Aushänge mit den Raumangaben verlasse: Sie stimmen nie. Und, dass Aufzüge immer dann kaputt sind, wenn ich sie brauche, denn laut Aussage des Hausmeisters „haben sie doch bis eben noch funktioniert“. Darüber hinaus aber auch, dass vermeintlich verstaubte Themen aus den Bereichen Epistemologie, Natur- und Rechtswissenschaften mir noch ganz viel Neues und Interessantes bieten können.
Ich habe dieses Jahr geschafft und somit konnte ich endlich mit meinem eigentlichen Studium beginnen. In Buenos Aires gab es damals nur die Möglichkeit, juristisches Übersetzen und Dolmetschen zu studieren. Dieser Studiengang wurde an der Rechtsfakultät erteilt. Es gab ihn schon viele, viele Jahre. Hier war also alles besser organisiert, die Studierendengruppen waren kleiner, die Fächer hatten einen klaren Bezug zur Berufspraxis. Endlich machte das Studium richtig Spaß.
Fünf Jahre nach jenem ersten chaotischen Tag im März 1985 hielten 38 junge Leute ihr Diplom in der Hand. Und mittendrin ich, eine Absolventin, die bald Übersetzerin und Dolmetscherin und viele Jahre später Professorin für Dolmetschen werden sollte.
Mehr Erinnerungen an die Studienzeit in „Lehrende und ihre Studienanfänge“
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