Schritt für Schritt zur inklusiven Hochschule

16 kleine Kacheln, nebeneinander aufgereiht – das war für Falko Neuhäusel und seine Kolleg:innen des Studiengangs Gebärdensprachdolmetschen monatelange Realität: „Zoom war eine gute Überbrückung, aber keine optimale Lösung.“ Umso mehr freuen sich alle auf die Präsenzlehre im Wintersemester, um die Inhalte in gewohntem Rahmen vermitteln zu können.
Der Studiengang Gebärdensprachdolmetschen arbeitet nach den Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprache (GeRS). Damit soll der Spracherwerb, die Sprachanwendung und die Sprachkompetenz in Europa transparent und vergleichbar gemacht werden. Dazu gehört u.a. der bundesweite Austausch mit Kolleg:innen anderer Hochschulen.

Jeder Mensch hat das Recht, ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Inklusion ist längst als Menschenrecht anerkannt. Während der rechtlichpolitische Rahmen damit gesetzt ist, erzählen Prof. Okan Kubus und Falko Neuhäusel, welche positiven Entwicklungen es gibt, aber auch, wie viel Ausdauer und Anstrengung es auf praktischer Ebene noch erfordert.

Text: Carolin Maier

Eine bildhafte und lebendige Sprache

Wenn Prof. Dr. Okan Kubus und Falko Neuhäusel ihre Lehrveranstaltungen online durchführen, blicken sie nicht auf aneinandergereihte, schwarze Kacheln, wie so viele andere Lehrende es zwangsläufig tun. Ihre Studierenden haben die Kameras an – und das ausnahmslos. Für die Kommunikation untereinander ist das auch notwendig. Beide lehren Gebärdensprachdolmetschen am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien. Während Okan Kubus vor zwei Jahren die Professur für Gebärdensprachdolmetschen antrat, blickt Falko Neuhäusel auf fast 25 Jahre Hochschulleben zurück. Was beide eint, ist sowohl ihre Leidenschaft für die Lehre als auch die Tatsache, dass sie taub sind.

Okan Kubus stammt ursprünglich aus der Türkei und beherrscht sowohl die Türkische als auch die Deutsche Gebärdensprache. Er lehrt Gebärdensprachlinguistik, Dolmetschtechnik, Dolmetschwissenschaften und Deaf Studies. Letztere befassen sich mit der Kultur und Soziologie tauber Menschen und geben Einblicke in Werte, Normen und Traditionen der Taubengemeinschaft. Warum das so wichtig ist, erklärt Falko Neuhäusel an der Gebärde „Problem“. Wird der lautsprachliche Satz „Du hast ein Problem“ wortwörtlich in die Gebärdensprache übersetzt – „DU PROBLEM“ – würde es selbst bei wertfreier und neutraler mimischer Begleitung als negativ oder gar als Vorwurf verstanden werden. Das liege daran, dass allein das Wort bzw. die Gebärde „PROBLEM“ durch das Aufwachsen tauber Menschen mit oftmals hörenden Eltern als negativ wahrgenommen werde. Das macht deutlich, welche große Verantwortung Gebärdensprachdolmetscher: innen haben und wie wichtig es ist, die Gebärdensprachkultur und Linguistik in der Lehre zu vermitteln.

Gebärdensprachen sind visuelle Sprachen. Die Umstellung auf Online-Lehre verlangte den Lehrenden und Studierenden besonders viel ab. Neuhäusel erklärt, dass es sich bei Gebärdensprachen um dreidimensionale Sprachen handle, die man in Videomeetings aber nur zweidimensional wahrnehmen könne. Das bedarf spezifischer Anpassungen, zum Beispiel müsse der Körper bewusst schräger ausgerichtet werden, um die Ausführungsrichtung und die Gebärden deutlich zu zeigen. Auch die kleine Kacheldarstellung der Personen erfordere viel Konzentration und ein langsameres Gebärden, um den Gebärdensprachtext korrekt zu erkennen.

Die Arbeit dahinter

Bis Studierende ausreichend Grundkenntnisse hätten, um den Seminaren selbstständig folgen zu können, benötige es ein bis eineinhalb Jahre, erläutert Kubus. Aus diesem Grund gibt es in den Lehrveranstaltungen von Prof. Dr. Okan Kubus und Falko Neuhäusel professionelle Gebärdensprachdolmetscher:innen, um die Gebärdensprache in Lautsprache und andersherum zu dolmetschen. Selbstverständlich ist das nicht, wie Neuhäusel verrät. Er erinnert sich noch gut an früher. Dort halfen oft sogenannte CODAs aus, also hörende Kinder gehörloser Eltern. Die Abkürzung steht für Children of Deaf Adults. Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der (Arbeits-)Situation tauber Menschen war auch die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als eigenständige Sprache im Jahr 2002. Die Situation heute ist somit weitaus besser. Die Betonung liegt auf besser. Von unkompliziert oder ideal ist sie noch weit entfernt. Für jeden Termin, den es im Hochschulkontext gibt, benötigt es eine Dolmetschdienstleistung. Ob innerhalb der Verwaltung, mit Kolleg:innen anderer Fachbereiche oder Fachbereichsrat- und Senatssitzungen. Man kann erahnen, wie voll der Terminkalender eines Dozenten oder gar Hochschulprofessors ist. Damit sei auch immer zusätzliche organisatorische Arbeit verbunden, erläutert Kubus. Denn für die Buchung jeder Dolmetschdienstleistung ist jede Person selbst zuständig, ebenso für die Verwaltung des Budgets.

Ihre Erfahrungen schildern Kubus und Neuhäusel ganz ohne die Absicht, Mitleid erregen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Sie möchten vielmehr ein Bewusstsein schaffen und darüber informieren, welche Stolpersteine es gibt und wie viel Anstrengung das teilweise erfordert. Prof. Kubus erinnert sich an seine ersten Wochen an der Hochschule. Bevor er mit seiner eigentlichen Arbeit beginnen konnte, die als Studiengangsleiter über die Vorbereitung der Lehre hinausgeht, klärte er zunächst seine hörenden, nicht gebärdenden Kolleg:innen über den Ablauf einer Dolmetschsituationen auf, um Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen. Zum Beispiel darüber, dass man trotz Dolmetscher:in immer direkt mit der tauben Person spricht und man darauf achten sollte, nicht durcheinanderzureden.

Ein Schritt mehr in Richtung Inklusion

Kubus, Neuhäusel und die zwei weiteren tauben Kolleg: innen an der Hochschule sind vor allem eins: Lehrende, Forschende, Expert:innen. Die Tatsache, dass für die Kommunikation mit ihnen Unterstützung nötig ist, sollte immer nebensächlich sein. Dass es mit Okan Kubus nun den ersten tauben Professor in Sachsen-Anhalt gibt, sei ein wichtiges Zeichen, da mit ihm endlich eine gehörlose Person eine Führungsposition einnehme und dort Entscheidungen treffen könne, erklärt Falko Neuhäusel.

Den Arbeitsalltag erleichtern wird zukünftig eine festangestellte Gebärdensprachdolmetscher:in. Das ist einmalig in Sachsen-Anhalt und hat Modellcharakter. Zum Hintergrund muss man folgendes wissen: Das Integrationsamt stellt jeder schwerbehinderten Person ein Budget als Arbeitshilfe, das jährlich neu beantragt werden muss, zur Verfügung. Die Buchung einer Dolmetschleistung obliegt wiederum der tauben Person. Man kann sich vorstellen, wie viel bürokratischer Aufwand damit verbunden ist. Der Wunsch nach festem Personal bestand im Studiengang Gebärdensprachdolmetschen daher schon lange. Die Umsetzung habe insgesamt zwei Jahre gedauert und sei mit sehr viel Aufwand verbunden gewesen. Weder die Hochschule noch das Land konnten auf vorhandene Leitlinien zurückgreifen. Es sei für beide Seiten unbekanntes Terrain gewesen, schildert Kubus. „Es musste eine Kostenaufstellung und konkrete Dolmetschplanung mit Stundenangaben erfolgen, was insbesondere Prof. Kubus viel Zeit und Energie gekostet hat“, erläutert Janine Scherer, die als damalige Inklusionsbeauftragte der Hochschule Magdeburg-Stendal maßgeblich bei der Antragstellung mitwirkte. Nun verwaltet die Hochschule zunächst für die nächsten zwei Jahre das Budget eigenständig, wodurch eine Festanstellung erfolgen kann.

Eine Aufgabe für uns alle

Die zukünftige Personalstelle an der Hochschule bietet eine große Erleichterung und mehr Flexibilität für beide Seiten. Kurzfristig auftretende Gespräche können dadurch leichter abgedeckt werden. Sie sorgen dafür, dass die Kommunikation zwischen tauber und hörender Person gelingt. Denn in Sachen Inklusion sind beide Seiten gefragt. Inklusion heiße nicht, dass sich eine Seite anpasse. Inklusion bedeute vielmehr, aufeinander zuzugehen und sich gegenseitig anzupassen, führt Prof. Okan Kubus aus. Auch Falko Neuhäusel sieht darin die Chance, dass nicht nur er für Inklusion kämpfen könne, sondern auch die hörenden Menschen. In seiner Wunschvorstellung ist sich jeder der Gehörlosenkultur und dem Umgang miteinander bewusst und alle Kolleg:innen der Hochschule beherrschten Grundkenntnisse der Gebärdensprache, um den Alltag einfach miteinander teilen zu können.

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