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Katja Gründel
Geisterstadt
Ich starrte aus dem Fenster und blickte in das unendliche Schwarz, das Abertausende Sonnen und Planeten beherbergte. SOL* 427 zeigte das Display hinter mir an, das sich in der Scheibe spiegelte. In einigen Wochen werden wir ankommen. Meine To-do-Liste für heute ist lang, ich sollte lieber anfangen.
SOL 462
Unsere Sonde mit der gesamten Crew und Ausrüstung landete unsanft auf dem Boden. In wenigen Minuten würden wir alle das erste Mal, als erste Menschen seit ca. 1800 Jahren, die Erde betreten. Geplant ist eine ruhige Ankunft, in der die erste Woche ausgewertet wird, wie viele der Vorbereitungen abgeschlossen sind, sowie eine generelle Einschätzung unseres Standortes. Dafür nutzen wir unser Raumschiff, das uns in der Erdumlaufbahn als eine Art Satellit dient. Darüber können wir mit dem Forschungszentrum und gelegentlich mit unseren Familien kommunizieren.
Die große Stahltür öffnete sich und uns überschwemmte eine Welle an Eindrücken. Wir hörten Tierlaute, den Wind, wie er die Baumkronen zum Rascheln brachte und spürten die angenehme Wärme, die sich um uns legte. „Ist auf der Erde nicht eigentlich gerade etwas, das die Alten Winter nannten?“ fragte unser Oberflächenforscher. Die Klimaforscherin grinste: „Die Klimazonen der Erde scheinen sich erholt zu haben. Es kann hier Sommer sein und an einem anderen Ort Winter.“ Wir verließen die Sonde und machten die ersten Schritte in unsere neue Heimat. Die Mission war eine SINE REDITUM Mission. Also eine Mission ohne Rückkehr. „Der Himmel,“ stammelte ich, „er ist … er ist blau?“. Zuhause war der Himmel nur beim Sonnenauf- und untergang blau. Sonst war er orange.
Ich setzte mich auf den Boden und nahm einen tiefen Atemzug. Alles war komplett anders. Ich konnte im Freien ohne Maske atmen und die Luft war so sauber und frisch. Die Farben, sie waren anders als ich sie kannte, so grell und gesättigt. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Buntes gesehen. Alles war überwachsen und die Bäume waren hoch und stark. „Kaum zu glauben was alles in 1800 Jahren passieren kann.“, sagte der Zoologe zu mir und setzte sich neben mich. Er hieß Ari und war schon vor der Mission ein guter Freund von mir. Ich erinnerte mich an all die Menschheitsgeschichtsstunden, die ich in der Schule und in meiner Ausbildung hatte. 2038 startete ein Programm, das Menschen auf den Mars schickte. Auch sie sollten, wie wir, nie zurückkommen. Über die Jahre wurden immer mehr Menschen zum Mars geschickt. Irgendwann beschloss man, den Mars auch als Speichermedium zu nutzen. Man sammelte das gesamte Wissen der Menschheit und schickte es auf den Mars. Eine komplett selbständige Zivilisation begann, sich zu entwickeln. Anfangs waren die Menschen auf der Erde dagegen und ethische Diskussionen schienen kein Ende zu nehmen. 2123 passierte es dann.
Einer der größten Vulkane am Feuerring explodierte und löste eine Kettenreaktion aus, die sämtliche umliegende Vulkane ebenfalls zum Explodieren brachte. Das war das Ende. Der gesamte Himmel färbte sich dunkelgrau, für Tage, dann Wochen, dann Monate. Die nächste kleine Eiszeit klopfte an der Tür. Schon nach einigen Wochen war die Population deutlich zurück gegangen. Bürgerkriege und Chaos beherrschten die Zeit. Unternehmen wie die NASA und Space X versuchten verzweifelt so viel wie möglich an wichtigen Maschinen und Rohstoffen zum Mars zu schicken. Menschen waren nur wenige dabei. Es dauerte nicht lange und kein Mensch war mehr übrig. Wer nicht von Kannibalen getötet wurde, erfror oder verhungerte. Knapp 1600 Jahre lag die Erde in Eis und Schnee. Zum ersten Mal seit langem befreit von Menschen, die ihr so viel Leid brachten.
Nach unserer Ankunft gab es für uns viele Umstellungen. Mit der Forschungsstation auf dem Mars konnten wir nur noch in Tagen kommunizieren, das was einst unser Drinnen war ist jetzt unser Draußen und Nahrung war so gut wie überall zu finden. Jeder, der studierter Forscher war, hatte sein eigenes Erkundungsteam mit welchen er sämtliche Aufgaben in seinem Feld erledigen konnte. Ich war einer dieser Forscher. Mein Feld war die Botanik, genauer gesagt die Flora und Fauna. Nach der ersten Woche machte ich mich mit meinem Team auf den Weg. Dabei hatten wir ein mobiles Lager, sämtliche Messinstrumente, Kameras und natürlich Funk, um mit den anderen Teams und dem Raumschiff in Kontakt zu bleiben. Nach 17 Tagen trafen wir zu unserem Staunen auf eine alte Stadt. Häuser überwuchert von Pflanzen und so zerfallen, dass sie kaum als Häuser zu erkennen waren. Einige waren dagegen noch etwas besser erhalten, das Eis und der Schnee muss sie über all die Jahre konserviert haben. Wir schlugen unser Lager auf einem großen Platz auf, der vereinzelt mit Flecken von Pflastersteinen bedeckt war. Die nächsten Tage wollten wir die Häuser und Geschäfte durchsuchen.
Die Alten hatten etwas, das sie Hauspflanzen nannten. Sie ließen sich alles was wuchs importieren und stellten es sich in ihr Haus, weil sie es schön anzuschauen fanden. Für mich hatte dieses alte Hobby nur Vorteile. Samen und ganze Pflanzen könnten dort überlebt haben und wir hätten Einsicht auf die Flora und Fauna der ganzen Welt, obwohl wir uns nur in einer Kleinstadt befanden.
Als ich das erste Mal ein Haus der Alten betrat, war es, als würde ich in ein Geschichtsbuch steigen. Tapete hing von den Wänden, Möbel waren zerfallen und alles grünte und wurde nur noch von Wurzeln und Schlingpflanzen zusammengehalten. Ich wagte einige Schritte über den morschen Boden bis vor mir ein eingerahmtes Foto lag. Behutsam hob ich es auf. Eine glückliche Familie lächelte mich an. In der einstigen Küche angekommen, prägte Rost das Gesamtbild. Sämtliche Küchengeräte hatten diesen braun – orangenen Farbton angenommen, der mich für einen Moment an meine Heimat erinnerte. Was mir in den aller meisten Häusern das Herz brach, waren der Anblick der Dinge, die einst so gehütet und gepflegt wurden und nun das Zeitliche segnen.
Bei unseren Durchsuchungen wurden auch viele Tresore freigelegt, in denen die Alten alles was ihnen wichtig war einlagerten, in der Hoffnung, dass es einen Neuanfang gibt und jemand ihre Schätze findet. Viele interessierte dieses Zeug nicht, da wir eh alles Wissen über die Alten hatten und Familientragödien keinen Mehrwert hatten. Ich hingegen fand große Begeisterung an all den kleinen und großen Problemen, die die Menschen vor über 1700 Jahren hatten. Ich fand Tagebücher, die aussahen als hätte erst gestern jemand darin geschrieben, Anhänger und Ketten mit Gravur, Lieblingsbücher und Briefe, Briefe an allen und jeden aus jedem erdenklichen Grund, Liebesbriefe, Briefe voller Angst, Abschiedsbriefe und Briefe voller Hoffnung. Noch nie hatte ich mich so verbunden zu den damaligen Menschen gefühlt wie jetzt. Würden mehr Menschen realisieren, das sie genauso waren wie wir, mit denselben Ängsten und Sorgen, dann würden vielleicht mehr versuchen, alte Bräuche und Traditionen aufrecht zu erhalten.
Aber meine Welt ist eine andere als diese hier. Das machten mir die vergilbten Seiten immer wieder deutlich.
* Ein SOL ist ein Mars-Tag.