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Paula Haberberger
Kälte
Es is wirklich verdammt kalt! Sogar schon im Haus, als ich die Treppe runtergehe. Es wird seit Wochen nicht mehr richtig warm bei uns, die Heizung ist kaputt und der Techniker hat natürlich erst in ein paar Tagen wieder Zeit … Aber dann bin ich ja nicht mehr da.
Durch ein Knarzen schrecke ich aus meinen Gedanken. Verdammt, ich hab nicht aufgepasst und bin auf die dämliche, knarrende dritte Stufe gestiegen. Hoffentlich wachen Mama und Papa nicht auf! Was ich mitten in der Nacht in dicken Klamotten und mit meinem riesigen Rucksack mache, würde ich wirklich nicht gut erklären können. Ich stehe noch ein paar Minuten regungslos auf der Treppe, aber alles, was ich höre, ist das laute Schnarchen von Papa und das Summen der tragbaren Heizung die die beiden in ihrem Zimmer aufgestellt haben. Gerade noch mal Glück gehabt. So, jetzt muss ich aber echt dringend los, ich bin sowieso schon ganz schön spät dran. Aber was kann ich dafür, wenn die Alten so lang fernsehen ... Naja, egal, ist jetzt halt so. Ich mache die Haustüre auf und will mich eigentlich direkt wieder umdrehen und mir noch mehr anziehen – hier draußen ist es noch viel kälter als drinnen. Aber jetzt ist es zu spät, auch wenn es vermutlich auf dem Motorrad noch viel kälter wird. Jetzt kann ich das aber nicht mehr ändern, ich hoffe einfach, dass wir heute nicht mehr ewig fahren.
Da vorne ist schon das große Feld, auf dem ich als Kind immer mit meinen Geschwistern und unseren Nachbarn gespielt haben. Das ist auch schon ewig her … Wahrscheinlich haben wir vor sechs oder sieben Jahren hier noch Iglus und Schneemänner gebaut – oder eher Schneehexen, wenn man nach dem Aussehen geht. Im Sommer haben wir unser Baumhaus auf dem alten Apfelbaum gebaut und im Herbst die Äpfel gegessen, aber auch das haben wir schon wirklich lange nicht mehr gemacht. Das ist irgendwie nur noch eine entfernte Erinnerung, die durch das alte, verschneite Brett, das immer noch am Baum hängt, hervorgerufen wird. Ich bin jetzt fast ein bisschen traurig, dass wir uns schon so lange nicht mehr gesehen haben, das war ja schon immer echt lustig. Wir waren immer so lange draußen, bis es ganz dunkel war – im Winter sind unsere Lippen dann ganz blau angelaufen – und unsere Eltern uns zum Abendessen gerufen haben.
Jetzt nur noch den langen Berg runter und da, bei der großen Kreuzung, wartet er auch schon auf mich. Ich sehe ihn, aber sein Motorrad nicht. Wollten wir nicht eigentlich so schnell wie möglich weg von hier? Wenn wir vorher noch zu ihm laufen müssen, dauert das ja ewig und wir sind morgen früh noch in diesem Kaff. Und dann haben wir mit Sicherheit nicht genug Zeit, meine Eltern wachen immer echt früh auf …
Ich merke, dass ich schon wieder das Zittern anfange, und laufe schnell wieder los, den Berg runter. „Hallo“ begrüße ich ihn, als ich unten angekommen bin. „Wo ist das Motorrad?“ „Hey“, erwidert er und gibt mir einen schnellen Kuss. „Das steht am alten Spielplatz, hier ist mir das alles zu öffentlich.“ Okay, das ergab nicht so richtig Sinn, hier ist bei der Kälte und nachts um halb eins ja kein Mensch. Aber immerhin müssen wir keine Stunde zu ihm laufen. Der Spielplatz ist aber auch so weit weg, dass wir da, als wir noch jünger waren, eigentlich nie hingegangen sind. Da läuft man bestimmt eine Viertel Stunde. Wir müssen an den ganzen Schrebergärten und der Kirche vorbei und natürlich durch den Park. Als Kinder durften wir dort nie durchlaufen, vor allem wenn es dunkel wurde. Das hat sich auch bis heute so gehalten. Aber nein, ich bin kein kleines Kind mehr und ich bin vor allem nicht alleine. Er ist ja bei mir und dann wird mir bestimmt nichts passieren, außerdem sind die ganzen Mörder und Vergewaltiger, die in diesem Park sitzen, vor denen wir immer gewarnt wurden, bestimmt nicht da heute. Nicht bei der Kälte, wo man erfriert, wenn man sich eine Minute nicht bewegt.
„Okay, dann lass uns mal losgehen“, antworte ich endlich. „Na, da hat es heute aber jemand eilig …“ „Ja, mir ist echt eiskalt und ich will endlich wieder ins Warme. Frierst du nicht?“, frage ich nach, aber er schüttelt den Kopf. „Nur ein bisschen.“
Wir laufen los, ich renne eigentlich fast, aber es wird absolut nicht mehr warm – dafür war ich jetzt zu lange draußen. Kurz überlege ich mir, ob ich nicht vielleicht doch wieder zurück gehen soll. Ich könnte einfach den Ersatzschlüssel im Blumentopf nehmen, mich ins Bett legen und es würde niemandem auffallen. Aber nein, ich habe keine Lust mehr auf diese Familie, in der keiner miteinander redet. Jetzt sind wir schon fast im Park und ich halte kurz an. Er dreht sich um. „Ist alles okay?“, fragt er. Ich nicke und laufe schnell weiter. Jetzt im Park werde ich sogar noch schneller, ich fühle mich wirklich unwohl hier im Dunkeln. Obwohl überall Schnee liegt, der das kalte Mondlicht reflektiert, aber da vorne unter den vielen Bäumen wird es plötzlich richtig dunkel, da sieht man nicht mal mehr die Steine und Äste, die auf dem Weg liegen. Hoffentlich stolpern wir jetzt nicht, das Letzte, was einer von uns brauchen kann, ist eine Verletzung. Jetzt sind wir endlich wieder raus, das kam mir früher auch irgendwie größer vor. Gut, jetzt an der Kirche und dem Gemeindehaus vorbei. Hier war ich früher auch öfter, jetzt gehe ich nur noch einmal im Jahr in die Kirche und auch nur, weil Mama sagt, dass das an Weihnachten einfach dazugehört. Der Gottesdienst vor über einem Monat war wieder mal so langweilig wie jedes Jahr, seit ich nicht mehr einen der Engel im Krippenspiel spiele. In dem Kostüm wars auch immer ganz schön frisch, das eine Mal hatte ich danach sogar eine Erkältung. Komisch eigentlich, dass Mama mir das erlaubt hat, wo sie doch jetzt alles, was Spaß macht, verbietet … Egal, jetzt kann sie mir nichts mehr verbieten, und trotzdem habe ich ich gerade das seltsame Verlangen, zu ihr ins warme Bett zu kriechen, so wie früher, wenn ich einen Albtraum hatte oder Papa auf Geschäftsreise war.
Aber was denke ich denn da? Die Frau hat mich seit Monaten nicht mehr umarmt und seit Wochen haben wir nicht mehr geredet. Heute Abend werde ich endlich das erste Mal mit ihm ins Bett gehen und er wird mich umarmen und mit mir reden und dann wird mir endlich mal wieder warm werden.
Ich schaue auf und merke, dass wir schon fast an den Schrebergärten vorbei sind. Ich habe gar nicht gemerkt, wie wir hierher gekommen sind, so versunken war ich in meine Gedanken. Endlich kommen wir am alten Spielplatz an und ich erinnere mich, dass ich das letzte Mal hier war, als mein kleiner Bruder hier sein Klassensommerfest hatte und Papa mich gefragt hat, ob ich mitkomme. Am Ende sollte ich den ganzen Abend auf meine kleine Schwester aufpassen und es war einfach nur langweilig.
„Wo ist denn jetzt das Motorrad?“, frage ich mürrisch und vor Kälte bibbernd. „Gleich da vorne, nur keine Angst.“ Wir gehen den verlassenen Weg entlang, und da fällt mir auf, dass ich seit langem niemanden mehr gesehen habe. Das letzte Mal ein Auto auf der Hauptstraße, als wir zum Park gelaufen sind, aber hier, bei den Schrebergärten, ist im Winter wirklich kein Mensch mehr.
Ich sehe das Motorrad, seufze erleichtert auf und drehe mich zu ihm um, er steht plötzlich direkt hinter mir und macht mir, ehrlich gesagt, ein kleines bisschen Angst. Sein Gesichtsausdruck ist wie versteinert und gar nicht mehr der des netten Mannes, mit dem ich in den letzten Monaten so oft geschrieben, telefoniert und mich endlich auch getroffen habe. Er zieht mich zu sich und ich erwidere die Umarmung etwas stockig, und auf einmal schreie ich vor Schmerzen laut auf. Ich schaue an mir herunter und kann das Messer erkennen, das in meiner Brust steckt. „Fabi“, flüstere ich leise, breche zusammen, während mir langsam immer kälter wird und die Schwärze immer dichter auf mich zukommt.