Matthis Wulftange

Kalender

Die Wissenschaft kennt keine Freizeit. Zumindest kommt es mir so vor. Täglich werden wichtige Fragen gestellt, diskutiert und wiederum hinterfragt. Es bleibt kaum Zeit, sich mit weniger bedeutsamen Sachverhalten auseinanderzusetzen. In Hinblick auf volle Terminkalender wäre es sicherlich spannend zu erfahren, ob und wie Menschen in der Historie ihre Termine festgehalten haben.

In der Steinzeit beispielsweise waren die sprachlichen Mittel noch begrenzt. Die Wandmalereien waren Teil ihrer Kalendereintragungen. Sie haben ihre Symbole, wie etwa ein Mammut oder einen Strauch in der Nähe des Höhleneinganges gezeichnet. Wenn nun die Sonnenstrahlen auf die Zeichnung des Mammuts treffen, wussten die Steinzeitmenschen, dass es Zeit ist auf die Jagd zu gehen. Wanderte die Sonne weiter und traf auf die Zeichnung des Strauchs, machten sie sich auf die Suche nach Pflanzen, Beeren und Kräutern.

Im Römischen Reich wurden Kalender nicht individuell geführt. Jede Familie hatte in der Regel einen Kalender zur Verfügung. In Ausnahmefällen gestattete der Kaiser einen zweiten Planer, sofern die Familie wichtig genug im politischen Tagesgeschehen war. Eine Beantragung war mit viel Aufwand verbunden und ihr wurde nur selten stattgegeben. Die Antragstellenden mussten ihre Loyalität zum Kaiserreich verdeutlichen. Im Austausch dafür erhielt die Familie ein wenig mehr Freiheit in ihrem Tagesablauf. Alltägliche Termine wie der Einkauf auf dem Marktplatz, das Besuchen einer Badeanstalt oder eines Gladiatorenkampfes wurden in einem Gemeinschaftskalender festgehalten.

Im Mittelalter war die Führung eines Kalenders lediglich dem adeligen Hofstaat vorbehalten. Dem einfachen Volk war es nicht erlaubt, neben ihrer Arbeit andere Termine wahrzunehmen. Der König oder die Königin ließen Termine im Kalender durch einen sogenannten „Hofschreier“ verkünden. So erfuhr der Pöbel beispielsweise von Audienzen, Geschäftsreisen und anderen Terminen.

Im Adel des 18. und 19. Jahrhunderts stand der Kalender hoch im Kurs. Die Wirkung nach außen war besonders wichtig. So war es angebracht, einen stets vollen Terminkalender mit sich zu führen und bei Bedarf vor anderen zu präsentieren. Außerdem wurden vereinzelt Wettkämpfe ausgetragen. Die Person mit den meisten wahrgenommenen Terminen innerhalb eines Monats hatte gewonnen und wurde bewundert und beneidet.

Welche Bedeutung hat der Kalender heutzutage?
„Was dauert denn da vorne so lange?“, höre ich es einige Meter hinter mir einen gestresst wirkeden Mann rufen. Ich erwache aus meinem Tagtraum. Perplex blicke ich in ein unbekanntes Gesicht. Um Geduld bemüht, fragt die Frau vor mir: „Gibst du mir die Bücher, damit ich sie scannen kann?“ Ich schaue sie weiterhin verständnislos an. „Das ist doch wirklich nicht so schwer. Bezahl endlich. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich muss noch zum Arzt und danach meinen Sohn aus der Kita abholen“, raunzt mich eine Frau nur wenige Zentimeter hinter mir an. Die plötzliche Lautstärke und ihre Spucke in meinem Nacken haben mich endgültig geweckt. Schnell reiche ich der Kassiererin den Kalender für das Jahr 2021 und das Buch über die Menschheitsgeschichte. Ich verlasse den Buchladen unter dem Applaus der sich hinter mir gebildeten Menschenmasse.

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