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Anna Himmler
Kindheit
Der November zeigte sich mit seiner Vielfalt. Nasskaltes Wetter, verschleierte Landschaften über dunkelgrauen Ackerflächen, gespenstige Bäume ohne Vogelklänge, düstere Stimmungen bei den Erwachsenen und ein leises Hoffen auf Weihnachten. Ab Mitte November war ich mir sicher, dass der alte Mann seine Streifzüge über unseren Hof macht, um durch die Fenster das Treiben meiner Familie zu beobachten. Meine Mutter wunderte sich, dass ich mein Zimmer auch mal von selbst aufräumte und abends oft freiwillig ins Bett huschte ohne tausend Gründe zu finden, die mich am Einschlafen hindern konnten.
Der Grund dafür war sehr einfach, mein fester Glaube an den Weihnachtsmann.
Dann war es endlich soweit. Die Wohnungen wurden weihnachtlich geschmückt. Auch in unserem Klassenraum breitete sich dieser Zauber aus. Ein Adventskalender mit 24 Türchen für 25 Schüler? Wie furchtbar musste es dem Kind ergehen, das zur Strafe darauf verzichten sollte. Das würde der Weihnachtsmann niemals zulassen. In meinen Gedanken war er streng, aber gerecht. Sicher findet er eine Lösung. Auch wenn etwas in mir erahnte, dass die Lösung von meiner Klassenlehrerin gefunden werden musste, ließ ich den Gedanken nicht zu. Die Jungs meiner Klasse waren viel zu cool, um an den Weihnachtsmann zu glauben. Mit Verlassen des Kindergartens machten sie sich über alles und jeden lustig, der vom Weihnachtsmann erzählte. Damit kam ich klar. Als nun aber auch noch meine Freundinnen mit seiner Existenz abgeschlossen hatten, durchfuhr mich eine tiefe Traurigkeit.
Mit wem konnte ich bloß darüber reden? Meine Eltern waren diesbezüglich auch komisch. Sie verhielten sich viel nüchterner als in den Jahren zuvor. Keine Drohungen mehr, sogar das Wort „Weihnachtsmann“ vermisste ich aus ihrem Munde. Fanden sie mich dafür jetzt schon zu alt? Gab es ihn vielleicht tatsächlich nicht? Diese Fragen quälten mich 23 Türchen lang. Am Abend vor Heiligabend hielt ich es nicht mehr aus und fragte meine Tante. Zu ihr konnte ich immer gehen, wenn mich etwas bedrückte und ich das nicht mit meinen Eltern besprechen wollte. Nach dem Abendessen ging ich noch einmal die Treppe zu ihr hinauf. Ich nahm allen Mut zusammen und war fest entschlossen, ihr diese wichtige Frage zu stellen.
Meine Tante war tief in den Vorbereitungen. Die Gerüche und Klänge sind mir bis heute vertraut. Ihr Weihnachtsbaum gefiel mir auch immer ein bisschen besser. Er war beständig, weil ich wusste, was an ihm hängt. Immer derselbe Schmuck, in denselben Farben, eine ordentlichen Portion Lametta zierte den nicht unbedingt perfekt gewachsenen Baum. Aber es war eben jedes Mal ein wenig wie im vergangenen Jahr. So wie diese hängenden Figuren, Kugeln und Lichter zu meinem runden Weihnachtsbild gehörten, war mein Glaube an den Weihnachtsmann ebenso beständig. Doch nun sollte sich alles ändern. Meine Tante unterbrach ihre Arbeiten und nahm sich Zeit für mich. Sie schälte mir eine Orange. Dabei sah ich ihr unglaublich gerne zu, wie sie mit dem Messer ein Muster in die Schale schnitt und dann mit leichten Bewegungen das Fruchtfleisch hervorzauberte. Bevor ich mir das erste Stückchen in den Mund steckte, war sie raus die Frage. Mein Herz raste vor Aufregung, denn sie antwortete nicht. Sie fing von anderen Dingen an zu reden. So, wie es Erwachsene immer tun, wenn sie nicht die Wahrheit sagen wollten. Ich ahnte Schlimmes. Sollte ich noch einmal fragen oder es dabei belassen?
Ich war schon halb auf der Treppe, als ich sie sagen hörte: „Du weißt doch, dass es ihn nicht gibt? Du bist doch kein kleines Kind mehr!“ Eine Antwort hat sie von mir darauf nie erhalten. Ich wollte dazu auch nichts mehr hören. Hätte ich bloß nie gefragt.
Und jedes Jahr zu Weihnachten, denke ich an diesen Moment auf der Treppe. Das ist dann immer eine kleine Reise in meine Kindheit mit dem glücklichen und sicheren Gefühl „es gibt ihn doch“.