Antonia Bernard

Träume

Gemütlich sitzt du in einer Regionalbahn auf einem der Fensterplätze. Gedankenverloren schaust du der flachen mitteldeutschen Landschaft zu, wie sie vor deinen Augen vorbeizieht und Bäume und Felder leicht verschwimmen. Etwas schiebt sich dann genauer in dein Blickfeld: ein süßes, aber doch großes rosafarbenes Schaf. Nicht hetzend, dennoch schnell, springt es neben dem Zug her. Mal läuft es voraus, mal lässt es sich zurückfallen.
Was macht dieses Schaf hier?
Läuft es dir oder dem Zug hinterher? Oder du ihm?
Der Zug bleibt stehen, du steigst aus und folgst dem Schaf. Der Feldweg ist geteert, du bekommst gar nicht mit, wie du dich voran bewegst, alles passiert von ganz alleine. In deinem Rucksack befindet sich eine Flasche mit gemischtem Holunderblütensirup von vor drei Jahren, die du herausholst. Nach wenigen Schlucken ist der Weg an einer einfachen Holzbrücke angekommen. Eine Gruppe von Leuten, Freunde, die du noch nie gesehen hast, und eine Tigerdame haben sich dir angeschlossen. Das Schaf ist schon auf der anderen Seite und hüpft in sein Baumhaus, um sich auszuruhen.
Auf der anderen Seite angekommen stehst du, wieder alleine, auf einer Allee in Florenz, die mit blühenden Kirschbäumen gesäumt ist. Die Sonne, die deine Haut angenehm wärmt, und die leichte Brise durch deine Haare, entspannen dich. Du schlenderst durch die belebte Straße. Auf dem Bürgersteig sitzen Familien und Freunde in kleinen Gruppen, essen Sonnenblumenkerne und spucken die schwarz-weiß gemusterten Schalen auf den Boden. Dabei unterhalten sie sich in dem typisch italienischen Singsang und mit der deutlichen Mimik. Du schaust nach oben und bemerkst, wie es anfängt zu schneien. Die fluffigen, perfekt geformten Flocken fallen sacht auf den Boden und verschwinden wieder. Kühler wird es nicht.
Die Straße endet an einem Strand, der von Palmen gesäumt ist. Schnürsenkel auf, Schuhe und Socken aus, du lässt sie einfach am Weg liegen. Ein erster Schritt, und sobald dein Fuß den weichen Sand berührt, ist die Stadt hinter dir verschwunden und das türkisblaue, klare Meer von Sri Lanka erstreckt sich vor dir. Du gehst auf die kleine Hütte am Strand zu, die Surfboards verleiht. Ein freundlicher Mann begrüßt dich, er trägt ein Tanktop und um seinen Hals hängt eine Kordel mit einem Muschelanhänger. Er übergibt dir ein Surfbrett, und sobald du es entgegen nimmst, wechseln sich deine Alltagsklamotten wie von selbst in ein Schwimmoutfit. Mit dem Brett unter dem Arm gehst du in das warme Wasser hinein. Mit manchen Schritten verscheuchst du ein paar kleine, bunte Fischschwärme. Als genügend Abstand zum Land da ist, legst du dich auf dein Brett. Nach nur einer halben Minute kommt auch schon eine schöne Welle auf dich zugerollt. Mit einigen Armbewegungen im Wasser gewinnst du an Geschwindigkeit, und als die Welle dich erreicht, brauchst du nur noch sicher aufzuspringen und das Meer übernimmt die Arbeit für dich. Ganz gelassen kannst du die Fahrt genießen und schaust hinunter in das Wasser. Eine wunderschöne gemusterte Meeresschildkröte schwimmt mit und hält deinem Tempo locker stand. Ein etwas genauerer Blick zu dem majestätischen Lebewesen hin und … es ist Crush aus dem Film „Findet Nemo“, er zwinkert zu dir hoch, du nickst: „Hey Dude!“. Gemeinsam geht es bis kurz vor den Strand zurück.

Am Liebsten möchtest du dich auf die nächstbeste Hängematte legen und eine reife Mango genießen, doch plötzlich gibt es einen lauten Knall. Kein Knall, wie wenn eine Kokosnuss runterfällt, nein, ein Knall, wie aus einer Waffe. Zehn maskierte Menschen stürmen auf den Strand und halten deine ehemalige Musiklehrerin fest. Die Leute sehen nicht aus, als ob sie verhandlungsbereit wären. Sehr aggressiv treten sie auf und vertreiben mit ihren Schreien alle Menschen, die in der Nähe sind. Aber du kannst dich nicht bewegen, wie angewurzelt stehst du da, kannst nichts denken, nichts machen. Dein gesamter Fokus liegt auf den bewaffneten Leuten, sodass du den Lärm über dir erst viel später mitbekommst. Ein Helikopter fliegt ratternd über deinem Kopf und lässt ein Seil zu dir hinunter. Mit neuer Zuversicht durch die Unterstützung kämpfst du dich zur Lehrerin durch, indem du das Surfbrett als Schutzschild benutzt, nimmst sie an deine Linke und hältst dich mit der rechten Hand an dem rettenden Seil fest. Ihr klettert hoch und auf dem letzten Meter vor der Bodenluke kommt dir eine Hand entgegen. Es ist die lächelnde Person aus dem Zug von heute Morgen. Zusammen dreht ihr noch eine Runde um bewaldete Hügel und spitze Berge, bis du am Bahnhof wieder abgesetzt wirst. Komplett verwuschelt, mit Sand zwischen den Zähnen und einer Flasche Holderblütensirup in der Hand betrittst du die Regionalbahn und lässt dich in den Fensterplatz fallen. Du schüttelst deinen Kopf und lachst auf.
Dein Blick fällt auf die lächelnde Person dir gegenüber. Ihr Kopf ist gegen das Fenster gelehnt und
ihre Augen verfolgen schon längst nicht mehr nur die vorbeiziehenden Bäume und Felder. Mal sehen, was sich das rosa Schaf Neues ausdenkt.

Ich träume gerne.

Ich träume von apfelstrudel, kettenkarussel und raketen. Von marienkäfern, wasserfällen und
giraffen. Von abenteuern, unterbewussten verlangen und vergangenen geschehnissen.
Ich träume von Gewalt, von Menschen, die ich kenne, und welchen, die ich nicht kenne. Ich träume von Gefahr und Liebe.
Ich träume von Gleichberechtigung, Freiheit und gerechten Löhnen. Von Toleranz und Respekt.
Ich träume von Menschlichkeit, dem Ende von Egoismus und aggressivem Kapitalismus.
Ich träume von Kindern, die ohne Hunger, Krieg und in einem liebevollen Haushalt aufwachsen.
Ich träume von guter Bildung, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit. Von einer Menschheit, die es interessiert, wie es anderen und ihrer Umwelt geht.
Ich träume von einem ausgeglichenen Sozialsystem, einem nicht profitorientierten Krankenkassensystem, und dass Mobilität ein Grundrecht ist, das sich jeder leisten kann.
Ich träume davon, dass sich jeder Mensch frei entfalten kann und dass sich ein Gemeinschaftsgefühl bildet, als Mitbewohner*in dieser Welt.
Ich träume von einer Welt ohne Rassismus, Faschismus, Sexismus und Homonegativität. Davon, dass alle lieben können, wen sie wollen, wenn sie wollen.
Ich träume von plastikfreien Meeren und großen Regenwäldern. Von Artenvielfalt, biologischer Landwirtschaft und Fahrradstraßen.
Ich träume davon, dass alle über ihren Körper selbst bestimmen können, und von einer Welt ohne Sklaverei.
Ich träume von Gerechtigkeit, von transparentem, kontrolliertem Lobbyismus. Von ausgebauter, präventiver Sozialarbeit, und dass auf Sozialisation und nicht Freiheitsentzug gesetzt wird.
Ich träume von einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Patriarchat und Ausbeutung.
Ich träume von Elefanten mit Stoßzähnen und Haien mit Flossen. Von einem Leben im Einklang zwischen Mensch, Natur und Tier.
Ich träume von einer Welt ohne Sucht und von innerer Zufriedenheit.
Ich träume viel, ich weiß.
Ich träume von spaziergängen, dem wind in meinen haaren, beschneiten gipfeln und drachenfliegen. Hier gefällt es mir, natürlich tut es das.
Denn das ist meine Welt, das sind meine Gefühle und Wünsche.

Wie sieht deine innere Welt aus? Die Welt, die nur für dich existiert.
Obwohl, vielleicht auch für das rosa Schaf.

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